Zum dritten Mal fahren wir (Rendel Freude, Fotografin und Workshopleiterin und Kristin Kunze, Clownin und zuständig für die Gruppenbewegung) mit Unterstützung der FREELENS Foundation für einen Fotoworkshop in die Welt: nach zwei Kursen in Ruanda ist Indien unser Ziel. Wir hatten einen Kontakt hier in Deutschland zu einer Mädchenschule in Rourkela, einer Industriestadt mit großem Stahlwerk, ungefähr 500 km westlich von Kolkata.
Fünf Tage und eine Fotoausstellung sind für den Workshop geplant. Die Schulleitung hat von 40 Interessierten die zwölf Mädchen aus den Klassen neun bis elf eingeladen, die zuhause eine Spiegelreflexkamera haben (vom Bruder, vom Onkel, vom Vater …). Am ersten Tag (der einen Tag später anfängt, weil am geplant ersten Tag ein landesweiter Streik wegen der Geldscheinreform alle öffentlichen Verkehrsmittel lahmlegt) kommen sie zum Teil ohne Kameras, weil der Bruder, der Onkel oder der Vater seine Kamera an diesem Tag gerne selbst benutzen möchte. Also suchen wir alles zusammen, was sonst an Kameras vorhanden ist: eine von mir, eine von der Schule, eine hat ihre Kamera selbst dabei und wir fangen die Übungen in größeren Gruppen an.
Alle Teilnehmerinnen sind aktive Smartphoneselfiemeisterinnen (dürfen in der Schule aber kein Handy dabei haben) und haben zum Teil auch schon mit den großen Kameras fotografiert. So geht es am ersten Tag um das Sehen selbst: wie schaut ihr in die Welt, wie fotografiert ihr mit dem Handy, was fotografiert ihr am liebsten? Mit dem Papprahmen einen Ausschnitt wählen und gezielt ein Bild aussuchen ist ganz neues Sehen, den Papprahmen weiter aufziehen und kleiner machen – was ist der Unterschied beim Bild? Beide Zeigefinger aneinanderlegen, dann ein Auge schliessen und mit der Sitznachbarin nochmal dieselbe Fingerübung machen – warum funktioniert das Aufeinandertreffen der Finger nicht? Was ist Räumlichkeit, die dritte Dimension? Was bedeutet das fürs Bilder machen? Nach den Trockenübungen geht es mit den Kameras raus auf den Schulhof, mit der Kamera ein Objekt oder Mitschülerin fokussieren, scharfstellen und dann fotografieren mit sovielen Aufnahmen wie es Spaß macht, aber es sollen alle ausser den fünf liebsten gelöscht werden, damit bei der Nachbesprechung am Computer es nicht so lange braucht. Eine schwierige Aufgabe, neue Fotos zu löschen! Für die nächste Runde werden also die Nummern der fünf liebsten Aufnahmen genannt — und die anderen Aufnahmen werden nicht mehr gelöscht.
Der zweite Tag beginnt mit Theorie: was ist Blende, Zeit, Empfindlichkeit und wie spielen diese Faktoren zusammen. Wo viele erwachsene TeilnehmerInnen in meinen Kursen in Deutschland nach kurzer Zeit inhaltlich aussteigen, sind die jungen Frauen hier immer weiter interessiert und verstehen die Grundprinzipien. Trotzdem rauchen die Köpfe und es braucht eine Einheit Bewegung und Singen mit Kristin.
Nächster Schritt: Gestaltungsgrundlagen wie goldener Schnitt, Blickrichtung, Hoch- und Querformat – und wie setze ich diese Dinge mit der Kamera um? Dazu geht es wieder raus auf den Schulhof, Mitschülerinnen fotografieren oder Gräser oder Gebäude.
Inhaltlich geht es auch schon um die Ausstellung: Wir stellen die Zweiergruppen zusammen, die in den nächsten beiden Tagen miteinander fotografieren werden und schicken alle los mit der Frage, zu welchem Thema sie was sie fotografieren möchten. Das Oberthema „Emotionen“ passt für alle und darin sind viele Themen machbar: Freude, Ärger, Wachstum, Alter, Kinder …
Am nächsten Tag wird für die Ausstellung fotografiert. Zu den ausgewählten Themen sind die Schülerinnen in und rund um das Gelände unterwegs und fotografieren Menschen, viele Bäume, Häuser und sich selbst. Nach der Morgeneinheit machen wir eine Bildbesprechung und ich gebe Aufgaben für die nächste Runde, die von den Schülerinnen zum Teil gut umgesetzt werden. Am Abend wähle ich aus allen Bildern für jede Gruppe fünf Aufnahmen für die Ausstellung und stelle sie den jungen Frauen am nächsten Morgen vor mit der Frage, ob das für die Teilnehmerinnen passt? Erstaunlich, es gibt keine Diskussion – alles gut und ja und so machen wir das. Und dann geht es nochmal ins Freiluftstudio mit der Aufgabe von jeder Teilnehmerin ein Portraitfoto zu machen, das in der Ausstellung gezeigt werden soll. Alle haben Spaß und sind stolz mit der echten Profikamera zu fotografieren! Dann braucht es noch Absprachen für die Ausstellung, wann bauen wir auf, wer hat Zeit, wie machen wir das? Auch hier ist in Kürze alles geklärt.
Eigentlich ist die Woche nun vorbei, nach vier Tagen, weil der erste ausgefallen ist, aber die Schülerinnen fragen, ob wir nicht alle am nächsten Tag nochmal „street-photography“ machen können und auf den Markt gehen, am liebsten nicht in Schuluniform. Also treffen wir uns am Samstag und weil Kristin Geburtstag hat, haben sie noch einen großen Schokoladenkuchen gekauft und singen ein happy birthday für sie. Danach geht es los zum Markt, mit einigen Zwischenstationen: den Eiswagenmann fotografieren und auch schnell noch ein Eis kaufen, damit aber die Kamera nicht mehr halten können, weil das Eis tropft.
Eine Woche später, die Fotos sind vergrössert und in Rahmen wieder in die Schule geliefert, treffen wir alle wieder und bereiten in der riesengroßen Aula die Ausstellung vor. Gleichzeitig probt hier noch die Tanzgruppe für den nächsten Auftritt zum Schuljubiläum, aber das klappt trotzdem gut nebeneinander. Weil in die Wände keine Nägel geschlagen werden dürfen, braucht es eine andere Lösung: wir stellen 16 Tische als grosses U hin, auf jedem Tisch liegt eine Schulbank und die Bilder werden an die Bank gelehnt und festgeklebt, das hält super bis zum Ende der Ausstellung.
Die Ausstellung wird am Freitag morgen um halb elf eröffnet und wird durch die Lautsprecher von der Schulleitung angekündigt. Zuerst kommen alle Lehrerinnen und dann in einer langen Reihe hintereinander ALLE Mitschülerinnen – die Kleinen, die kaum über die Bilder drüber schauen können – und die Großen. Nachmittags kommen auch einige Eltern und zum großen Vergnügen der Ausstellerinnen auch die Freunde von der boys school direkt nebenan. Es gibt viele Gespräche, viel Lob und zum Ende glücklich und erschöpfte junge Fotografinnen.
Eine schöne, lebendige Woche mit selbstbewussten jungen Frauen. Mindestens eine von ihnen will Profifotografin werden, weil sie dann „alles tun kann, was ich will“. Am Ende des Workshops eine Ausstellung zu organisieren, war auch für diese Teilnehmerinnen sehr motivierend. Das Ergebnis der eigenen Kreativität öffentlich zu zeigen, macht Mut — nicht nur fotografisch, auch persönlich.